Zeltgespenst

…ist unterwegs!

Bödefelder Hollenmarsch-2

 (Noch eine) Chronik eines gut 100km-Spaziergangs

Zwei Jahre nach meinen ersten 100km traute ich mich wieder auf die Strecke. Ohne viele Erwartungen, aber auch ohne große Aufregung ging es mit einem Freund, der sich die 67km-Strecke ausgesucht hat, nach Bödefeld, wo wir gerade noch die Zeit hatten, Startunterlagen abzuholen. Also……hier bin ich wieder, am Start…

Start! (Foto: Hollenmarsch)
Start! (Foto: Hollenmarsch)

Das Wetter ist super, die Stimmung passt und Schuhe sind mit über 2500km wohl ausreichend eingelaufen. Was soll schon schief gehen? Langsam realisiere ich aber, worauf ich mich erneut einlasse … Kann man noch fliehen???

KM 1 Loooos!!! Nach einem chaotischen Start versuche ich, mir ein gutes Plätzchen in der Kolonne zu finden.   Es soll zwar Menschen geben, die aus früheren Fehlern lernen, ich gehöre aber mit Sicherheit nicht dazu und lande so tatsächlich bald unter den Ersten. Ganz vorne läuft eine Dame mit Stöcken allen davon : Sie scheint zu schweben und mehr als Staunen bleibt uns, normalsterblichen, nicht übrig.

KM5 Auweia! Meine Füße!!! Es ist zu eng in den Stiefeln – meinen neuen Einlagen sei gedankt. Müsste sie neu schnüren, die Zeit dafür ist aber zu schade…

KM7 Wieder und wieder schnüre ich meine Schuhe neu. Ärgere mich, ernte bemitleidende Blicke, schaffe es aber, immer wieder aufzuholen. Von hinten sind die nicht unbekannten X und Y angeschlichen, bleiben aber noch im Schatten.

KM10 Wir gehen alle zusammen: X und Y, zwei Belgier, ein Läufer, der sich in anderer Rolle versuchen will (Z) und jemand, von dem ich aufgrund des Größenunterschieds nur Beine sehen kann. Die scheinbar fliegende Dame ist immer noch vorne, entfernt sich aber nicht noch weiter.

Die Füße brennen…

KM12 Ich…alleine! Jetzt schon. Und ohne Chancen, die Nacht nicht einsam zu verbringen. Aufstiegstempo wie es die ersten drauf haben ist nichts für mich. Und die Füße … Habe ich mich/sie überschätzt?

Aber…So schlimm ist das Alleinsein eigentlich gar nicht. Habe ich mir nicht demnächst eine Solounternehmung versprochen?

KM 15 Gleich geht es 400hm rauf. Es wird dunkler; das Feld zog sich schon sehr weit auseinander. Die ersten (X, Y, Z) sind unerreichbar, die Dame ließ sich von ihnen überholen und macht keinen so frischen Eindruck mehr.

Verlauf
Verlaufen ausgeschlossen! (Foto: Hollenmarsch)

KM19 Der Aufstieg ist geschafft! Habe Durst und verfluche denjenigen Augenblick, in dem ich mich entschied, aus Gewichtsgründen auf die Wasserflasche zu verzichten. Trinke am Verpflegungspunkt (VP) drei Becher leer und begebe mich in den nun ganz dunklen Wald.

KM23 „Die ersten 25km ruhig, die zweiten – Streckentempo..“ – eine weise Empfehlung vor zwei Jahren. Tja, das Streckentempo habe ich seit dem ersten Kilometer…

Dunkel ist es hier…

Sehe zwei Stirnlampen vor mir. Wer könnte es sein?

KM25 Der Langbeinige und die Schwebende!

KM29 Nächster Checkpoint… Schon besser. Auch die Füße melden  Besserung. Aber langsam werde ich träge. Hey, fürs müde sein ist es noch eindeutig zu früh!

Kurz vor dem Abzweig zum VP sah ich die schon abmarschierenden X und Y, danach – noch ganz nah – den Z . Sie schienen überrascht und froh mich zu sehen – so plötzlich, wie ich zurück gefallen bin, konnte man nichts Gutes erwarten. Freue mich auch!!!

Trinke wieder viel, schnappe mir eine halbe Banane – und los.

KM32 Ziiiiieht sich. Noch 25km bis wir umdrehen und denselben Weg zurück laufen. Bin gerade irgendwo steil rauf gekrochen. Gönne mir beim Abstieg 30 Schritte Lauf-ABC – sehr angenehm gegen Versteifung der Gelenke und Muskeln.

Schaue oft auf die Uhr. Für 10km inklusive kleiner Pause am Verpflegungspunkt brauche ich etwa 90 Minuten. Bis zum nächsten VP noch 7km …

KM47 Im Prinzip ist alles OK. Habe mich auf die ganze Strecke eingestellt, was keine Gedanken über einen Abbruch zulässt. Bewege mich automatisch weiter, kann aber den Drang, ständig auf die Uhr zu schauen, nicht unterdrücken. Ich bin tief im Wald, in der Nacht, alleine. Was habe ich hier vergessen? Warum hetze ich so? Woher dieser unnötiger Enthusiasmus und der Wunsch, jemandem nicht existierenden etwas absolut unsinniges zu beweisen???

KM49 Habe gerade den letzten VP vor der Wende verlassen. Zum Thema davor zurückkehrend, denke an das Fehlen jegliches Drucks von außen, den man beim Sport (oder Unternehmungen zu mehreren) so oft hat. Hier bin ich unsichtbar, nicht beurteilbar, kaum einer weiß überhaupt etwas… Das ist doch Urlaub, warum beeile ich mich so? Vorne sind sie ja alle weg, aufholen werde ich eh keinen können… Hinten ist auch keiner. Aber so ist es nun mal: Spaß macht es erst, wenn alles richtig gemacht wird…

Schalte Musik ein und versenke mich in ihr. Der Mond erleuchtert die Nacht, der Wald steht ganz still, nicht einmal meine Schritte stören die Ruhe. Gehe fast die ganze Zeit ohne Licht, schleiche durch die Dunkelheit wie ein Spion, der nicht entdeckt werden will. Doch die Zeit geht nicht vorwärts. Fünf Minuten ohne auf die Uhr zu schauen ist schon viel. Hüpfe wieder 30 Schritte runter und erwarte bald die schon zurückkehrenden X, Y und Z.

KM55 Der bekannte schmale Pfad durchs Gebüsch verbessert die Stimmung. X eilt mir entgegen und sagt, dass der Wende-VP etwas verlegt wurde. Etwas später sehe Y und Z und wundere mich, dass sie trotz relativ kleiner Abstände jeweils einzeln gehen.

KM57 Wendepunkt! Lasse mich registrieren und höre überraschte Feststellung, dass ich ja weiblich bin. Kann dem nur zustimmen  🙂 Insgesamt habe ich zwar keine Lust weiter zu gehen, kann mich aber auch nicht beschweren. Ziehe mir deswegen schnell andere Schuhe an, esse eine weitere Banane, mache beim Kauen ein paar Dehnübungen und lege wieder los, bevor der mächtige Schweinehund zuschlägt. Trotzdem waren es 15 Minuten! Wollte aber nur 20min nicht überschreiten, von daher OK.

KM60 Es ist noch alles sehr ruhig; ich treffe nur ein paar Personen. Mich an das erste Mal erinnernd (gutes Befinden bis ca. KM 70, danach Einbruch), versuche das Tempo hoch zu halten.

KM68 Die entgegen Kommenden tun der Motivation gut. Auf mein helles „Guten Morgen!!!“ (so um fünf Uhr morgens ) kommt manchmal aber nur ein unglückliches Murmeln … Insgesamt ist aber alles gut und es macht ausgesprochen Spaß, die anderen (fast 100% mit Stirnlampen unterwegs) aus der Dunkelheit zu erschrecken ) 🙂

Spaß!
Spaß! (Von wem das Foto ist, weiß ich leider nicht mehr)

Esse prophylaktisch etwas Schokolade und höre in mich hinein: Probleme des letzten Mals noch gut in Erinnerung. Es scheint aber alles gut zu sein.

KM75 Der VP ist voll mit Menschen (sie müssen noch zum Wendepunkt). Bin ich froh sie alle zu sehen! Lasse sie sitzen  und gehe nach einem Becher Wasser weiter. Das Ende ist schon greifbar nah!

KM80 Hüfte, Knie und Oberschenkel werden immer steifer und schwerer zu bewegen. Gehe aus Gewohnheit… Der Wald ist wieder leer, der Morgen gehört mir.

Die Sonne geht gerade auf! Höre Finding Neverland – diese romantischen, phantasievollen Soundtracks passen perfekt zu den wie Gold leuchtenden Wolken auf immer dem blauer werdenden Himmel. Fliehe von der Müdigkeit in die Welt der Emotionen. Ja, es ist meine Lieblingstageszeit – früher Morgen – und ich bin unterwegs, frei, freeeei!

KM86 Steige einen steilen Hang hinunter, den ich nachts keuchend hochgekommen bin. Angenehm ist es nicht! Sehe aber plötzlich das helle T-Shirt von Y vor mir!!! Die nächste Pause wird auf 10 sek reduziert.

KM89 Wo sind die Läufer??? Sie müssten schon längst gestartet sein und mir entgegen kommen. Und wo ist Y? Aaaaach! Hier ist er doch! Was für eine Aufholaktion !!! Gehen weiter zusammen…

KM92 Und noch ein VP…Kilometer verschwinden, zu zweit zu gehen lenkt gut ab. Allerdings bin ich etwas schneller. Die Läufer sind da… Schaue sie mir genauer an, diejenigen, die es wagen, 100km mit etlichen Höhenmetern richtig zu laufen…

KM95 Der Wald ist voll, endlich. Bin vom Y weggegangen; nicht sehr nett, aber ich bin schon etwas schneller. Zudem gehört ein Endspurt für mich nun mal dazu. Y steigerte auch den Gang und der Abstand vergrößert sich nicht wirklich.

Checke die Lage: Kreislauf spielt mit, es tut nichts weh und die Geschwindigkeit stimmt. Gut! Wobei groß genommen gibt es auch nichts, was nicht weh tut… Gehe automatisch.

97KM Markierungen nach jedem Kilometer zeigen, dass es ganz nah ist. Seit ich Y traf verlor ich das Gefühl für die Zeit und die Strecke. Doch jetzt kann man Meter zählen!

101KM Das war es! Alle, die gerade auch unterwegs sind, grüßen, ich genieße die letzten Meter.  Bin überrascht, dass alles „so schnell“ vorbei ist.

Komme eine halbe Minute vor Marathonstart an. Noch nicht ganz anwesend, bekomme Zettel mit meiner Zeit, lese ihn durch und vermute (ernsthaft!) einen Fehler. Die Zeit stimmt aber zum Glück 🙂 So oft ich in der Nacht auf die Uhr geschaut und Minuten gezählt habe, habe ich nicht einmal den kleinen Zeiger wahrgenommen, geschweige denn die Ankunftszeit ausgerechnet. Schon verrückt. Und Glück hatte ich auch: Marathonstart war genau 15h nach meinem…

In der Umkleide waren die Euphorie und scheinbare Frische auf einmal verschwunden. Es reicht, sich für einen Moment hinzusetzen, um nicht wieder aufstehen zu können. Duschen und Umziehen sind plötzlich schwere Herausforderungen. Der Versuch, meine Hausadresse aufzuschreiben, scheiterte an der Hausnummer… Ehrlich.

Während die Nächsten durchs Ziel wanderten, dehnte ich mich in aller Ruhe und lud Akkus mit Kuchen auf. Etwas später erwies sich der Zug als eine überraschend bequeme Schlafstätte und irgendwann fand ich mich ausgeschlafen im Bett wieder. Es war ein schöner Mini-Urlaub, eine genauso erlebnisreiche wie meditative Nacht und insgesamt eine geniale Aktion!

Dritte Zeit unter allen. (Foto: Hollenmarsch)
Dritte Zeit unter allen. (Foto: Hollenmarsch)

(Den Preis dafür sollte ich aber später noch erfahren – bis ich wieder 100% fit war vergingen an die zwei Wochen, was beim Sport für ausreichend Stress sorgte. Das ist aber eine ganz andere Geschichte… Und ruhiges Kilometersammeln ging eigentlich schon am nächsten Tag sehr gut wieder.)

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