Zeltgespenst

…ist unterwegs!

Eines Tages…

…wachst du auf und verstehst, dass du nicht einfach in den Urlaub willst – du willst in die Berge. Du erinnerst dich an den Schweiß, der beim Aufstieg in den Augen brennt und den kalten Wind, der über die Höhen pfeift. Du spürst die Konzentration jedes einzelnen Schrittes und überprüfst die Sicherung, bevor du dich oder deine Partner ihr anvertraust. Du zeigst dich routiniert und kaltblütig, bist aber aufgeregt und emotional wie ein Kind. Und du weißt noch ganz genau, welcher Ausblick an jenem Wochenende vor drei, fünf oder zwanzig Jahren dich innehalten ließ.

Was für einen Zaubertrank schenken uns Berge ein?  Aufwand, Strapazen, Risiko – es wird so vieles in Kauf genommen, nur um ein Ziel zu erreichen.

Was für ein Ziel eigentlich?

Der Gipfel ist nämlich nicht das Ziel, sondern lediglich ein möglicher Umkehrpunkt. Eine schöne Aussicht ist es ebenfalls kaum – diese erreicht man auch auf viel schnelleren Wegen. Um sportliche Höchstleistungen zu vollbringen oder sich zu testen, ist die Bodennähe ohnehin wesentlich effizienter. Entscheidungen treffen kann man bestens im Job, den Kopf „freimachen“ bei einer lockeren Laufrunde und mit Freunden austauschen bei einem Feierabendbier. Und dennoch schaltest du mitten in der Nacht den Wecker aus, beißt die Zähne zusammen und kriechst aus dem Zelt in die Kälte. Hast du dich dabei schon darüber geärgert, diese nächste Tour so sehr machen zu wollen?

Wolf

Die Stiefel sind angezogen, der Rucksack sitzt. Ihr geht langsam los, jeder in sich selbst gekehrt. Die ganze Welt ist so fern und unbedeutend; was zählt, sind nur die nächsten drei Meter im Kegel der Stirnlampe. Aber trotz des meditativen Steigens bist du wachsam und feinfühlig, agil und präzise. Sollte etwas passieren – zum Beispiel ein Stein den Fels in der Nähe hinunter rutschen – wärest du sofort aktionsbereit. Dein ganzes Wesen reduziert sich auf das eines Wolfes. Mit deinem Rudel – oder gar allein – gehst du im Mondschein geräuschlos auf die Jagd.

Auserwählter

Es ist nur ein Schimmer, nur ein Hauch eines Gefühls, aber du bist dir sicher: Es wird hell. „Dein“ Stern, mit dem du dich heimlich in der Nacht unterhalten hast, wandert immer weiter gen Westen, im Osten erscheint ein blasser, immer breiter werdender Lichtstreifen. Irgendwann tauchen die Konturen aus dem dunklen Nichts auf. Das Licht ändert sich mit jeder Minute und irgendwann taucht die Welt in ein zartes Rosa – so vergänglich, dass du kaum deine Kamera zu zücken wagst.

Es gibt vieles, was der moderne Stadtmensch nicht kennt. Er sieht keinen Horizont und riecht keine Blumen, spürt keinen Wind auf der nackten Haut und trinkt nie aus einem Wasserfall… Er weiß nicht, wie sich eine 200km Sicht anfühlt, hat noch nie über einem Wolkenmeer in den Sonnenschein getaucht oder das Spektakel  einer Föhnwand erlebt. Wir staunen über die bizarr gefrorenen Wasserfälle, unter deren bekletterbaren Kruste das Wasser plätschert, begrüßen die „Brockengespenste“, bewundern die Kühnheit und Eleganz der Grate und lassen uns auf die duftenden Wiesen fallen, um von (Salz suchenden) Schmetterlingen belagert zu werden.

Natürlich sind die einzelnen „Wunder“ nicht nur Bergsteigern vorbehalten. Die Häufigkeit, mit derer sie ihnen begegnen, lässt aber keine Zweifel übrig…

Spieler

Du hast es bis zur schwierigsten Stelle geschafft. Dein Herz schlägt zügig, aber gleichmäßig, du bist bereit und willst es. Das Gleichgewicht sorgfältig verlagernd, kommst du Schritt für Schritt voran, hältst deine Gedanken unter Kontrolle, ordnest alles dem sauberen Bewegungsablauf unter. Und dennoch weißt du, dass du nicht stolpern darfst, dass die Zeit läuft, der Wasservorrat, die Kraft oder das Wetterfenster ausgehen. Ständiges Abwägen der Für und Gegen, bewusstes Beobachten der Lage, möglicherweise folgenschwere Entscheidungen sind ein Teil des Spiels, dessen Regeln wir entweder akzeptieren (und damit in der Entwicklung stagnieren) oder ständig herausfordern (und damit immer weiterkommen) können.

„Ein sehr natürlicher Instinkt beim Treffen auf eine unbekannte Landschaft/Region ist es, sie zu erkunden“- schreibt ein spanischer Autor. Der Entdeckergeist ist der menschlichen Art genauso eigen wie der Wunsch, sich weiter zu entwickeln. Die Berge bieten uns dazu vielfältige Möglichkeiten. Denn gerade sobald man den (für jene ohne sonstigen Bergbezug oft schwierigen) Schritt vom Wandern zum Steigen geschafft hat, bestimmen nicht mehr die Wanderwege die Route, sondern einzig und allein das eigene Können.

Freund

Du hast es auf den Gipfel geschafft. Kurzer Handschlag, Augenkontakt. Doch richtig gratuliert wird erst unten.

….Es war ein langer Abstieg und wir beide waren absolut fertig. Nach etwa zwei Dritteln verpassten wir unseren Abzweig und mussten neu spuren. Ich hatte keine Kraft mehr dafür, mein Partner, der davor selbst schwächelte, ging voraus. Am Zelt krabbelte er angezogen rein und schlief ein. Ich schaffte es noch 3m weit zum Gletscherbachlein und schöpfte 15min lang Handvoll für Handvoll eine Flasche voll Schmelzwasser, damit wir (unser Gasvorrat war aus) etwas Flüssiges am Morgen hatten.

Eine ganz normale Geschichte.

Hast du schon einmal deine Hände am Bauch eines anderen gewärmt? Jemandem die Steigeisen ausgezogen, weil er oder sie dazu nicht mehr imstande war? Das Zelt ausgegraben, wenn sonst keiner Lust dazu hatte? Oder ist deins ausgegraben worden? Es sind kleine Heldentaten, die unsere Partner ausmachen. Nichts Pathetisches, wie es früher vielleicht mal gewesen ist. Aber der Bezeichnung auf jeden Fall wert.

„Sie sind alle positiv, sie sind alle stark und selbstbewusst und sie sind alle glücklich“, schreibt ein britischer Blogger über Bergbegeisterte. „Sie strahlen Zuversicht aus“ sagt die Autorin Maria Coffey. Begeisterungsfähigkeit, Ausgeglichenheit im Alltag und schnelle Anpassung an eine dynamische Umwelt sind mögliche Nebeneffekte der Bergaufenthalte. Das sind aber nicht diejenigen Qualitäten, die wir primär von unseren Partnern erwarten.

Zuverlässigkeit, Aufmerksamkeit, Bereitschaft, sich voll einzubringen – das sind für viele die wichtigsten Qualitäten. Sobald ein Seil im Spiel ist, ändert sich das ansonsten lockere Verhältnis zum 100%en bedingungslosen Vertrauen – es zu schenken, aber auch es zu empfangen, ist nicht einfach. Freunde, die man dadurch gewinnt, sind fürs Leben.

Glücklicher

Der Pfad windet sich nun nach unten. Die Füße glühen, die Gedanken sind immer noch weit oben. Aber irgendwann kommst du an. Stellst dein Zelt auf, breitest den Biwaksack aus oder trittst wie viele der „homo alpino lagerschnarchus“ am Abend noch kurz vor die Hütte. Die Tasse Tee fest in beiden Händen haltend, hältst du kurz inne. Schaltest die Stirnlampe aus, lässt die Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Im Westen ist der Himmel noch etwas erhellt  von der gerade untergegangenen Sonne, über der restlichen Welt funkeln schon die Sterne. Je länger du stehen bleibst, um so mehr davon siehst du… bis es kühl wird und du dich fröstelnd in den Schlafsack zurückziehst.

„Ganz bei mir“ nannte Gerlinde Kaltenbrunner, die dritte weibliche Besteigerin aller 14 8000er und die erste ohne künstlichen Sauerstoff, ihr Buch. Sie beschreibt ein Gefühl des Angekommenseins, des vollkommenen Friedens mit sich und der ganzen Welt. Wer von uns schon abends vor dem Zelt saß, sich so klein unter dem Firmament, aber so zu Hause im All fühlte – der wird sich gerade beim verträumten Lächeln ertappen.

zum Schluss

Die Frage nach dem „warum“ hinsichtlich der Aktivitäten in den Bergen ist alt und die Antwortmöglichkeiten sind ein Minenfeld unterschiedlicher Theorien. Wir fragen uns, ob wir etwas suchen oder vor etwas flüchten,  ob wir egoistisch sind oder nur glückselig, das Richtige gefunden zu haben. Die beste (Teil-)Antwort, die ich bisher gefunden habe, gab dabei eindeutig das Journal of Personality and Social Psychology:

„Basically people who engage in the more arduous high-risk activities such es mountaineering do so because they have higher expectations of what life should offer or what life should be“ („Grundsätzlich machen es Menschen, die anstrengende Hochrisikoaktivitäten wie das Bergsteigen betreiben, weil sie höhere Erwartungen haben an das, was das Leben bieten oder sein soll“)

Also lasst uns viel erwarten, lasst uns auf- und absteigen, träumen und hoffen, die Gipfel erreichen oder nicht erreichen, lasst uns irgendwann unsere Zelte aufschlagen – und einfach  glücklich sein.