Zeltgespenst

…ist unterwegs!

Liskamm-Überschreitung

Es ist eine Traumtour schlechthin. Elegant, logisch, ausgesetzt und mit über 4500m selbst für (immer noch stolze) 6000er-Besteiger definitiv keine Ostseedüne. Liskamm stand schon lange auf meiner Traumliste, so richtig wagte ich aber nicht daran zu denken – bereits die Angst vor der Angst reichte, um mich von der schlechten Qualität dieser Idee zu überzeugen. Trotz inzwischen mehrerer hundert Bergtage bekomme ich nämlich immer noch zitternde Knie, wenn es rechts und links in die Nirvana geht.

um ehrlich zu sein – keine Ahnung, wo das hier war. Vermutlich am Castor, bevor es hoch zum Liskamm ging.

Der Wetterbericht änderte sich stündlich, pendelte jedoch tatsächlich bei „gut“ bis „sehr gut“ mit zwischendurch Durchzug einer nächtlichen Kaltfront ein. Am Tag vor der Abreise realisierte ich, dass wir wohl tatsächlich den Liskamm angehen können und schaute einige Videos an – eine richtig schlechte Idee. Der teilweise nicht einmal zwei Fuß breite, unendlich lange Grat, aufgenommen meist mit der den Effekt noch verstärkenden Fisheye-GoPro weckte weniger das Interesse als die Todesangst. Zuerst galt es aber, abends den Bus bekommen und versuchen zu entspannen.

Warum einen Bus? Wegen der Gleisabsenkung bei Karlsruhe ist der Bahnverkehr bis aufs Weitere lahmgelegt und jede Fahrt in die Schweiz eine Abenteuerreise. Für mich änderte sich jedoch nicht viel: So oder so würde ich zwei Nächte im Verkehrsmittel verbringen und am Montagmorgen hoffentlich früh genug zu Hause sein, um vor der Arbeit noch duschen zu können.

Überraschenderweise verlief die Anreise reibungslos. Wir trafen uns in Bern mit Michael und waren gegen Mittag in Zermatt, von wo uns die Gondel aufs Klein Matterhorn (3841m) katapultierte.

Die erwartete Luftnot blieb aus…vorerst. Wir seilten uns bei inzwischen bedrohlich ausschauendem Wetter an, legten die Sturmhauben in die Jackentaschen bereit und zogen die Kapuzen zu: Es pfiff und war dunkelgrau um uns herum. Bei diesem Zähnezeigen der Natur blieb es aber auch; mal im Nebel, mal aber auch bei Sonne gingen wir zum Schwarztor (3731m) und erblickten beide gleichzeitig die Westflanke des Pollux – ca. 45-50°,  größtenteil schneebedeckt, teilweise aber auch recht dünn. Der Plan stand sofort – so etwas lassen wir uns nicht entgehen. Eine Stunde später hatten wir dieses kleine Abenteuer hinter uns und standen auf dem Gipfel, kaum etwas sehend. Es reichte nicht einmal für das Gipfelfoto – wir beeilten uns runter und fluchten, als es sich an den Ketten runterzuhangeln galt. Da bedankte ich mich in Gedanken bei meinen Crossfit-Trainern für die nötige Kraft – das Abklettern war anstrengend, aber sicher und kontrolliert.

Pollux-Westflanke
Zeltgespenst im steilen Schnee. Foto: Michael B.
Michael im Abstieg vom Pollux. Ob hier viele rauf geklettert wären ohne die Ketten?

Weiter ging es über eine beeindruckende (und das südseitig!) Gletscherlandschaft zum Refugio Guias de Ayas (3390m), wo wir pünktlich zum Abendessen ankamen und dieses durchaus genossen.

Im Abstieg zur Ayas-Hütte

4 Uhr, der Wecker reißt mich aus dem unruhigen Schlaf. Schnell den schon fertig gepackten Rucksack schnappen und nach dem wie üblich mühsamen Frühstück in die finstere Kälte treten.

Es fühlte sich wie ein Winter an. Eisiger Wind, Schneeverwehungen, irgendwann tiefes blaues Licht der Morgendämmerung. Manchmal sahen wir die Gipfel, meist hüllte sie aber ein dichter Nebel ein – so haben wir es uns nicht vorgestellt! Am wichtigsten war es aber, nicht aufzuhören sich zu bewegen, um nicht zu frieren – und schon gar nicht in irgendwelche Spalten fallen.

der neblige, kalte Morgen

Als es von der Spur weg ging, lief Michael voraus. Gleichmäßig, schweigend, jeder mit sich selbst beschäftigt stiegen wir über die etwa 30° steile Flanke, querten ein Stück nach rechts und legten die letzten, zunehmend steileren und zum Schluss nahezu aperen, Meter zurück. Und da geschah es: Goldene, noch nicht wirklich wärmende Strahlen der Morgensonne zauberten ein glückliches Lächeln in die Gesichter.

Im immer noch eisigen Wind ging es auf dem messerscharfen, weil nach dem letzten Schneefall nicht gespurten, Grat zum Gipfel des Castor (4223m) und etwas entspannter den Ostgrat runter. Bald hat uns eine fitte Seilschaft ein- und überholt und spurte voraus, die ein paar Meter davor werden für mich aber der aufregendste Teil des Tages bleiben – ich, absoluter Gratliebhaber und -hasser gleichzeitig, als erste auf der schmalen Schneide bei atemberaubender Sonnenaufgangsstimmung.

Vom Silbersattel aus hieß es wieder: Anstrengen. Der Aufstieg im Flachem zog sich, im Steilen ging es besser voran, wurde zum Schluss aber inadäquat kraftraubend – macht sich doch die Höhe bemerkbar? Und auf dem Westgipfel pfiff der Wind so kalt und heftig, dass wir große Bedenken hatten, bei dem Wetter diese recht ausgesetzte Überschreitung machen zu wollen. Doch noch bevor wir uns dagegen entschieden haben wurde es ruhiger und wir genossen zunehmend diesen immer noch kalten, aber nur leicht windigen Tag.

Liskamm-Westgipfel 4479m

Das Spannendste war dabei der felsige Teil (I-II°). Immer wieder musste man auf dem schmalen, ausgesetzten Grat aufstehen und einige Schritte laufen, dann wieder kraxeln, wieder gehen… Bald schon zog sich vor uns jedoch ein weißer Schneegrat, mal schmäler und mal breiter, aber insgesamt nahezu harmlos, sogar für mich. Nach dem Ostgipfel wurde der Grat noch schmäler und man ging direkt auf der Schneide, inzwischen waren wir aber sehr gut daran gewohnt. Wir legten das Seil ab und genossen die Tour jeder für sich.

Liskamm-Grat
Zeltgespenst im Felsteil. Foto: Michael B.

Nach dem durchaus langen Gratwandern und dem Abstieg ins Flache freute ich mich sehr auf die Hütte. Der immerfitte Michael fragte, wie es mir geht. „Ganz gut, aber noch einen Gipfel bräuchte ich heute nicht“ – ich. Nach kurzer Pause antwortete er: „Schade, ich hätte noch die Vinzenzpyramide mitgenommen…“ Gibt es eigentlich etwas, was dieses unglaubliche schweizer Volk müde macht???

Abstieg vom Liskamm-Ost. Foto: Michael B.

200m später, Michael: „Wenn du (=ich) noch einmal nach oben schaust, steigen wir doch noch auf die Vincenzpyramide hoch!“ Ich, fluchend: „ Ach komm du eh, machen wir es doch einfach!“

Keine 300hm von uns entfernt, entpuppte sich dieser 4215m-Hügel für mich als doch wirklich anstrengend und auf der Gnifetti-Hütte (3625m) danach war ich eher tot als lebendig. Aber was solls – wir hatten einen genialen Tag!

In der Gnifetti-Hütte. Foto: Michael B.

Am Morgen starteten wir erneut in Richtung Lisjoch (4115m) und damit Schweiz. In einer unvorstellbar langen Karawane aus Tourengehern, die mit ihren Stirmlampenketten an einen Nachtlauf erinnerten, ging es langsam bergauf. Obwohl ich mich immer noch nicht fit fühlte, überholten wir viele Seilschaften und standen mit den ersten Sonnenstrahlen wieder auf über 4000m. Es pfiff jedoch ein kalter Wind, ich fror erbärmlich, tat es mit schwer im Aufstieg und schlug vor, direkt abzusteigen.

endlose Tourengeherschlange am Morgen
Der neue Tag ist da. Rechts die Vincenz-Pyramide

Dass es keine schlechte Idee war zeigte sich, als wir trotz eines ordentlichen Tempos glatte 9h bis zur Bahnstation Gorner Grat gebraucht haben. Der Abstieg über den Grenzgletscher ist eine Tour an sich und der Zeitbedarf sollte nicht unterschätzt werden. Entlohnt wird man durch herrliche Landschaft und unter anderem Blick n die Liskamm-Nordwand. Genießen konnte ich das Ganze jedoch erst nach dem Auftauen, davor hoffte ich nur, dass keiner von uns in eine Spalte fällt und wir nicht noch mehr Probleme bekommen als wir durch die Kälte eh schon hatten.

Liskamm-Nordwand

auf dem Grenzgletscher

Am Gorner Grat tauchten wir plötzlich unter die Menschenmassen. Es war warm und laut, trocken und nahezu windstill. Ich dachte daran, dass ich gleich noch eine Nacht im Bus verbringen darf – das ist der Preis der Reisen für ein Wochenende in die Berge… Aber nach diesen unglaublich schönen, anspruchsvollen 60h war es letztendlich egal. Ich werde im Bus die Augen zu machen und mich immer noch durch die Berge ziehen sehen.

Grenzgletscher, unterer Teil